Die Beweggründe der Auswanderung der Schwaben nach Polen und Rußland.

Um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, als große, umgestaltende Ereignisse in die Geschicke der Staaten und Völker eingriffen, bestand das Deutsche Reich in der Hauptsache aus 10 Kreisen. Zwischen dem bayerischen, fränkischen, oberrheinischen, und österreichischen lag der schwäbische Kreis, der in vier Viertel: das württembergische, badische, konstanzische und augsburgische, geteilt war und als der bevölkerste galt.
Im Stammescharakter des Schwaben, seinem Unabhängigkeitstrieb und der Leichtigkeit, mit der er sich von einem, seiner Lebensgestaltung hinderlich erscheinenden Zusammenhang absondert, liegt es begründet, daß der schwäbische Reichskreis mit seinen nahezu 100 Territorien der zerstückeltste war. Hier „lagen alle die vielen reichsunmittelbaren Unabhängigkeiten bunt durcheinander, welche der Sonderungstrieb des Stammes geschaffen hatte“. Über all die vielen selbständigen Territorien erhob sich das Herzogtum Württemberg als das bevölkertste und größte Land. In Jahrhunderten hatte ein umsichtiges und starkes Regentengeschlecht das Herzogtum zu der allein lebenskräftigen und festen Stütze des schwäbischen Kreises gemacht, während die vielen kleinen Republiken und Monarchien um das Herzogtum herum ohnmächtig dastanden und ein Dasein fristeten, das bis zur Karikatur verzehrt war.
Es lag im Wesen der seit fast 300 Jahre geltenden ständischen Rechte in Württemberg und der republikanischen Verfassung der Reichsstädte, daß in Schwaben mehr als in anderen deutschen Gebieten die Teilnahme des Volkes an den Geschicken des eigenen Landes und ein gewisses Interesse an den großen politischen Fragen erhalten blieb. Wenn in der Zeit der autokratisch herrschenden Fürsten die Beteiligung des Volkes an den großen Fragen des allgemeinen Wohls sich auch verringern mußte, so war sie doch so stark, daß die wichtigsten Angelegenheiten niemals dauernd der Öffentlichkeit entzogen werden konnten. Obwohl es meist Konflikte totaler Natur waren, erschienen sie nunmehr im Lichte des Kampfes für Freiheit gegen jede Unterdrückung. Streitigkeiten in der Verwaltung wegen Bevorzugung von Patriziern, Anstellung und Besoldung von Beamten, zwischen Handwerksmeistern und Gesellen, die oft nichts mehr waren als Wiederholung der mittelalterlichen Zunftkämpfe, gaben unter Einfluß der politischen Freiheitsideen den Anlaß zu Demonstration und aufrührerischem Treiben. Eigennutz, Willkür, Mangel an geistiger und sittlicher Bildung kennzeichnet das Beamtentum der damaligen Zeit. Das Amt galt als eine Pfründe, die möglichst viel Einnahmen bei möglichst wenig Arbeit abwerfen mußte. Die Bestechlichkeit ging von den untersten Stufen des Staatsdienstes bis zu den obersten hindurch. Von Staatsinteressen, Pflichttreue und Verantwortungsbewußtsein war kaum eine Spur vorhanden.
Das für die Ämter an die Oberen erlegte Geld mußte natürlich auf irgendeine Weise von den Untergebenen erpreßt werden. Bürger und Bauersmann hatten letzten Endes diese Kosten zu tragen.
Die Maßnahme des strengen Herrschers zur Schaffung eines ordentlichen Heerwesen und die Gewalttätigkeiten bei der Aushebung der Rekruten, die gegen ihren Willen zum Militärdienst eingezogen wurden, versetzte die jungen Württemberger in Angst und Schrecken. Dazu kamen die ungeheuren Verluste der Regimenter: der rheinische Bund hatte für den Fall eines Krieges 63 000 Mann für Napoleon bereitzustellen, wovon 12 000 auf Württemberg entfielen, bei den damaligen zerrütteten Verhältnissen eine stattliche Zahl. Meist kehrten nur noch sehr wenige der ins Feld gezogenen Truppen in die Heimat zurück. Von den 15 800 Mann, die nach der Heerschau bei Öhringen (unter Napoleon) nach Rußland abmarschierten, kamen nach dem Bericht von Moskau und Smolensk nur noch 150 Bewaffnete über die Beresina.
In dem Verfahren bei der Aushebung, in der Behandlung der Soldaten und in den ungeheuren Verlusten fand der tiefe Haß des Volkes gegen die allgemeine Wehrpflicht und alle Maßnahmen auf Militärischem Gebiet reichlich Nahrung.

 


Der König kümmerte sich wenig um die Not in den einzelnen Häusern und den Jammer der Familien. Der komplizierte Staatsapparat erforderte eine strenge Aufsichtsbehörde, und die Polizei bildete fast den wichtigsten Zweig der Verwaltung. Eine strenge Überwachung der Untertanen in ihrem Tun und Lassen, Reden und Denken war eingeführt, um die Regungen des neuen Geistes, der von Preußen her wehte, zu unterdrücken. Geheime Kundschafter beobachteten in Wirtshäusern und Privatgesellschaften die harmlosesten Zusammenkünfte und belauschten die Unterhaltungen. Öffentliche Versammlungen waren verboten. Das ganze gesellschaftliche Leben befand sich in einem Zustand der Befangenheit.
In der Zeit der Kriegsjahre 1792-1815 kamen feindliche Truppen wiederholt nach Württemberg und das Land hatte schwer unter den Folgeerscheinungen zu leiden. Schon 1796, als die Franzosen unter Moreau in Schwaben eindrangen, war das Land der Willkür der zuchtlosen republikanischen Truppen ausgeliefert, die ungeachtet des teuer erkauften Friedens, das Volk mit Drangsalen aller Art quälten. Kam ein Kommandant mit seiner Truppe in einen Ort, so ergingen sofort Befehle zur Lieferung von barem Geld und Naturalien und die Soldaten plünderten die Häuser.
1799 kamen die Franzosen abermals, und von nun ab machte sich Freund und Feind über alle Vorräte her, entführte das Vieh und verwüstete Feld und Weg vollständig. Es folgten die hohen Anforderungen, eine nach der andern, eine schwerer als die andere, die vielen langen Jahre durch. Einquartierung, Vorspanne und Fronen hinderten den Bauern daran, seiner Feldarbeit nachzugehen. Naturallieferungen und Kriegsabgaben aller Art hatte in der langen Zeit der napoleonischen Kriege zum größten Teil der Bauer zu tragen. Die Kriegslasten und Steuern häuften sich dermaßen, daß mancher genötigt war, seine Äcker um jeden Preis zu verkaufen, um nur seine Abgaben entrichten zu können.
Das kirchliche Leben Württembergs gegen Ende des 18. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch das Eindringen des Rationalismus. Zwar gelangte die Aufklärung hier nicht zu solcher Herrschaft, wie etwa in andern deutschen Landen. Die erstarrte Orthodorie hat durch ihr steifes Schulchristentum dem Rationalismus Vorschub geleistet und war kaum weniger verhaßt als ihre Gegner. Von welcher Seite her die Geistlichen auch kommen mochten – ihre Predigten ließen die Gemeinden kalt und unberührt. Unter diesen Umständen geriet das kirchliche Leben in einen ziemlichen Tiefstand. Die Abneigung gegen das offizielle Kirchentum wuchs und mit ihr der Einfluß des pietistischen Konventikelwesens, das lange schon in Württemberg Wurzel gefaßt hatte.
Der fromme Sinn des schwäbischen Volkscharakters seine tiefe Veranlagung und das Bestreben, über die ernstesten Fragen einer religiös fundierten Weltanschauung Klarheit zu finden, hatte sich schon lange vor dem Einbringen der Gedanken Speners in besonderen Versammlungen kleinerer Art, wie Hausandachten und Besprechungen, Ausdruck verschafft. Die brüderliche Aussprache der Erweckten und die Pflege der Gemeinschaft unter ihnen, wie sie Spener und Francke vorschwebte, mußte gerade bei den Schwaben einen geeigneten Boden finden. Denn der Schwabe sinniert und brütet wohl für sich hin, empfindet aber dann um so dringender das Bedürfnis nach Aussprache über das Ersonnene und Erlebte. Darin liegt begründet, daß gerade in Schwaben der Pietismus mit die schönsten Früchte gezeigt hat.